ZAUBER - Spiel der Mächte

PROLOG

 

Das Geweih eines männlichen Damwildes reißt plötzlich in die Höhe. Aufgescheucht von einem verräterischen Ton verharrt das Tier still wie eine Attrappe. Seine Ohren bewegen sich im Kreis im Bemühen, die Quelle zu orten. Der leuchtende Vollmond umgrenzt die dunkle Silhouette des adulten Hirsches. Wenn der Nachtwind für einen Moment stillhält, vernimmt er gedämpfte Laute. Sie könnten von einem heulenden Wolf stammen, wäre der letzte Isegrim auf der Insel nicht vor über zweihundert Jahren getötet worden. 

Der kühlfeuchte Wind des fortgeschrittenen Frühlings nimmt nach der kurzen Rast an Stärke zu, zischt durch Rinnen und Ritze, zwingt die hochaltrigen Bäume und die undichten Fenster, mit ihrem Rascheln und Klappern in sein Lied einzustimmen. 

Die gekieste Zufahrt führt an der unverschlossenen Garage vorbei. Das Rolltor hängt zu einem Drittel herunter wie ein müdes Lid. Darunter stieren zwei hellgraue Streifen in die Nacht hinaus, gleich einem Raubtier, das im nächsten Moment über seine Beute hereinbricht. Es sind die Scheinwerfer eines nur mit Mühe auszumachenden schwarzen Grand Cherokees. 

Ausgetretene, steinerne Stufen führen zum Eingang des verwitterten Gutshauses. Zwanzig Steinwürfe von der Landstraße entfernt dämmert es dahin, allein auf flacher Ebene, verborgen vor aller Augen durch einen Bestand uralter Bäume. 

Hinter der eisernen Doppeltür verstecken sich acht kalte Zimmer. 

Zehn Schritte verlangt die Überquerung des Eingangsbereichs, dann entbreiten sich die ersten beiden großflächigen Räume. Die übrigen sechs sind im oberen Stockwerk verteilt, erreichbar durch Treppenstufen, die von zwei Seiten abgehen und oben zusammenlaufen. Die Stille und die karge Einrichtung verbannen jedes Gefühl des Behagens. 

Das Haus beherbergt sieben Kaminstellen, die durch ihre Größe die Aufmerksamkeit des Betrachters erzwingen. Spärlich gesäte Rußpartikel am Mauerwerk über den Feuerstellen weisen darauf hin, dass innerhalb dieser Wände Leben nur kurz verweilt. Die Zimmer sind lichtlos und unbewohnt. Alle bis auf eins, durch dessen halboffene Tür rötlichgelbes, züngelndes Licht schimmert. 

Der Schein des zuckenden Kaminfeuers bricht sich in den geweiteten, blassbraunen Augen im bejahrten Gesicht. Die von Adern übersäte Hand umkrallt den linken Oberarm, die linke Hand schüttelt unkontrolliert das Glas, der herausgeschleuderte Wein befleckt den weißen Hirtenteppich. Herausgestoßene, abrupt endende, röchelnde Laute zwängen sich durch die Stimmlippen im Kehlkopf, durchdrungen von beißendem Schmerz. Der Mund ist geöffnet, die aufeinandergepressten dünnen Zähne entblößt, die Miene zu einer archaischen Dämonenmaske verzerrt. Die angehaltene Atmung führt zur Vergiftung des Blutes, das Glas in der verhärteten Pranke zerbricht, der Rest des Rebenblutes sprengt in alle Richtungen. Endlich entkrampft die Anspannung. 

Deaglan O’Breandan – der Herr des Hauses, ein gedrungener Mann von sechzig Jahren – haucht aus. Er nimmt ein uraltes Geheimnis mit sich. 

Vor den Flammen des Kaminfeuers beobachtet ein stummes Augenpaar, wie der Tote in den braunen Ledersessel zurücksinkt, wie sein Kopf auf die Brust fällt und der dichte Bart Augen und Mund begräbt. 

Die geisterhafte Gestalt zeigt einen Mann in grauer, zerlumpter Kluft. Das Gesicht ist unter der Kapuze versteckt, die zum Boden zeigenden Mundwinkel verraten seinen Hass. 

Als wäre er einem bösen Fiebertraum entsprungen, reiht sich die schemenhafte Erscheinung in das Hitzeflimmern des prasselnden Feuers ein und zergeht ins Nichts. 

Erfüllt vom bodennahen Nebel und der eingekehrten, gespenstischen Grabesstille saugt die Nacht jedes Quäntchen Licht auf, das der volle, nun befleckte Mond wirft.

 

 

SONDERBAR

 

München am frühen, sommerlichen Morgen. Felsenfest steht ein Mann einhundert Meter vor dem gläsernen, sechzig Millionen Euro teuren Bürokomplex. Der Ausdruck im ovalen Gesicht ist gesammelt. Die aufmerksamen Augen folgen der Straße, die geradewegs auf einen von zwei Haupteingängen zufließt. Für eine Seitenstraße ist der Weg zu breit geraten, für eine Hauptstraße zu eng. Im Moment ist der Verkehrsweg unbefahren. 

Ein Mysterium umweht den Mann, der vor zweieinhalb Jahren in den Kreis der Volljährigen eingetreten ist. Eine Unerklärbarkeit, die er bisher mit niemandem teilen konnte, wollte er nicht als sonderbar eingestuft werden. Vielleicht hätte er sie seinen Eltern anvertraut. Doch sie sind nicht mehr für ihn da. 

Der leicht erhöhte Puls zeugt von äußerlich unsichtbarer Aufregung. Eine Prise Nervosität ist sicher auch beigemischt. Man könnte vermuten, dass er unterwegs zur Arbeit ist oder einen geschäftlichen Termin einzuhalten hat. Darauf lassen der verknitterte schwarze Anzug und die schwarze Krawatte über dem weißen Hemd schließen. Dazu schwarze Schnürschuhe, nicht mehr ganz neu. Trotz der verlottert wirkenden Kleidung macht er eine gute Figur darin. Jung, sportlich, gut aussehend. Ein Erfolgstyp – sollte man meinen. 

Hellwach studiert der junge Mann, den seine irischen Eltern auf den Namen Kacey getauft haben, die Vorgänge in der Umgebung. Auf beiden Seiten der Fahrbahn werden Sanierungsarbeiten an Wohngebäuden durchgeführt. Während auf der linken Seite ein Team von Handwerkern die Fassade zu neuer Pracht zu verhelfen versucht, streicht auf der rechten Seite lediglich ein Maler die Wände an. 

Dort kommt auf halber Höhe der Straße ein Mann mittleren Alters aus einer Tür heraus. Er trägt eine bekleidete Schaufensterpuppe in den Armen – augenfällig von einigem Gewicht – und setzt sie auf dem Gehweg vor dem Schaufenster ab. Statt auf Beinen ist der Torso drehbar auf einem Turm gelagert. Die Kunststoffarme sind auf Schulterhöhe seitwärts ausgestreckt. Der Mann geht in den Laden zurück. Ansonsten scheint der rechte Fußweg frei und friedlich zu sein. 

Kacey will sichergehen und wartet noch einen Moment ab, bevor er sich für einen Weg entscheidet. Schließlich wählt er die Seite des einsamen Handwerksmannes, um den Gebäudekomplex zu erreichen. 

Zügig, schrittfest, mit wachen Sinnen nähert er sich dem Maler auf dem Baugerüst, der in fünf Metern Höhe seine Arbeit verrichtet. Soll er unter dem Gerüst hindurch oder besser daran vorbeigehen? Er beschließt, einen Bogen um die Konstruktion zu ziehen. 

Kaum hat er sie passiert, da nimmt er einen herabfallenden Schatten an der Hauswand wahr und springt gerade rechtzeitig zur Seite, der Eimer mit weißer Farbe verfehlt ihn und knallt auf den Boden. Kacey bleibt unversehrt, die Hose dagegen hat einen neuen Anstrich erhalten. 

»Kumpel! Alles okay bei dir?«, ruft der Maler betroffen. 

»Schon gut, nichts Schlimmes passiert«, winkt der Besprenkelte ab. 

Eilig versucht er, die Flecken zu entfernen und sorgt unfreiwillig für ihre Verbreitung. Nachdem er die Hose gehörig verschlimmbessert hat und einsieht, dass er mit der Schrubberei aufhören sollte, setzt er die Reise fort. 

Ein Taxi holt den Besudelten ein, fährt an ihm vorbei und hält genau auf Höhe des Mannequins an. Noch steigt niemand aus. Allem Vernehmen nach müssen erst noch fiskalische Fragen geklärt werden. 

Kacey sieht, dass am Ende des Weges überraschend zwei Personen auftauchen, die in die Straße einbiegen. Einer von ihnen – ein dürrer, Überdruss empfindender Mitmensch im blauen Monteuranzug – führt einen ausgedienten, zweistöckigen Tischwagen vor sich her, dessen Scharniere im Rhythmus seines Schlurfganges quietschen. Auf den Ladeflächen liegen Werkzeuge aller Art. Nicht wenige von ihnen werden spitz zulaufen oder eine scharfe Seite aufzeigen, mutmaßt Irlands verlorener Sohn. 

Die zweite Person ist ein jugendlicher Skater, der sich von dem lahmen Blaumann in seinem Freiheitsdrang ausgebremst fühlt. Ungeduldig verlässt der junge Rebell auf seinem feuerrot lackierten Brett den Bürgersteig, überholt den langweiligen und gelangweilten Passanten und springt auf den Gehweg zurück. Monteur und Skater steuern direkt auf den jungen Mann im verlotterten Anzug zu. 

Als Kacey das Taxi bis auf wenige Meter erreicht, springt der Taxifahrer trotz seines beleibten Umfanges behände aus dem Wagen und hetzt zum Kofferraum. Mit dem bauschigen, von einem Ohr zum anderen reichenden dunkelbraunen Schnurrbart und der Schirmmütze ist er der Videospielfigur Mario nicht unähnlich. 

Zur gleichen Zeit öffnet sein Fahrgast unbedacht die Tür und bringt damit den anrasenden Teenager vornüber zu Fall. Das Board fliegt unter Marios Fuß, der darauf rücklings ausrutscht und dem Board den nötigen Antrieb gibt, um den Flug auf Kaceys Kopf anzutreten. Der Attackierte weicht haarscharf aus; das Brett knallt auf das Mannequin hinter ihm und bewirkt seine Drehung um hundertachtzig Grad. Der ausgebreitete Arm der Figur saust auf Kacey zu, der auch diesmal aus der Bahn schnellen kann, und kracht in das Schaufenster. 

»Gute Reflexe, Alter!«, staunt der Skateboarder nicht schlecht über den flinken Burschen, als er wieder auf die Beine springt. 

Der Ladenbesitzer kommt herausgelaufen und erhitzt sich über Mario als auch über seinen zerstreuten Kunden und den jungen Rebellen, die ganz unzweifelhaft in verwerflicher Absprache gemeinschaftlich seine Scheibe zertrümmert haben und unbeholfen versuchen, sich aus der Verantwortung herauszuwinden. 

Der beschmutzte Irländer nimmt die ursprüngliche Absicht auf und fährt mit der unterbrochenen Reise fort. Der Monteur mit dem Tischwagen ist ihm nicht geheuer. Je geringer die Entfernung zum Blaumann wird, desto mehr gewinnen die Bedenken, mit jener Person an einem Punkt zusammenzutreffen, an Reife. Sein Misstrauen obsiegt und er fasst den Entschluss, die Straßenseite zu wechseln. 

Mit dem nächsten Atemzug hört er im Rücken die scharf quietschenden Bremsgeräusche eines BMWs. Seine Reaktion erfolgt blitzschnell; er springt in die Luft, rollt sich zusammen. Sein Kreuz kracht auf die Windschutzscheibe, der Wagen kommt endlich zum Stehen und schleudert den Erfassten zu Boden. 

Die Scheibe ist heil geblieben. 

Der Fahrer des Wagens, ein Mann mit graumeliertem Haar in grauem Anzug und Krawatte, steigt aus und hastet zum Liegenden. 

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragt er mit erkennbarem Schrecken im Gesicht. 

»Nichts Schlimmes passiert.« 

»Tut mir aufrichtig leid, ich war für einen Moment abgelenkt. Ist wirklich nichts passiert? Kann ich etwas für Sie tun?« 

»Ist schon gut, es ist alles in Ordnung«, gibt der Angefahrene durch einen Wink zu verstehen. 

»Sind Sie sicher?« 

»Ist ja nicht so, dass mir das zum ersten Mal passiert«, grinst er. 

Am Ende der Straße angekommen, widersteht der Zwanzigjährige der Versuchung, die Konzentration zu lösen. Er muss zwar nur noch auf die gegenüberliegende Seite wechseln, doch er darf jetzt nicht unachtsam werden. 

Nach wenigen aufmerksam gesetzten Schritten steht er endlich vor der Drehtür. Bevor er hindurchgeht, hält er es für angebracht, sich vor der reflektierenden Glasscheibe noch zurechtzumachen. Sein schwarzer Anzug ist mittlerweile grau vor Schmutz und Staub. 

»Warum hörst du nicht endlich auf? Bist du nicht schon zu alt für solche Faxen?«, fragt er sein dunkelmattes Spiegelbild. 

 

Das Büro von Frau Jakobsen ist in schnörkellosem Weiß und so spartanisch wie nur möglich gehalten. Weiße Wände, weißer Boden, weißer Schreib- und Beistelltisch, angeordnet in L-Form. Auch der schlanke, wirbelsäulenfreundliche Drehstuhl verzichtet auf jeden farblichen Tupfer. Darüber hinaus bietet der Raum nichts an Mobiliar, nicht einmal die in Büroräumen üblichen Topfpflanzen, und seien es vertrocknete. 

Zwei Dinge verlassen den Kurs der einheitlichen Farbgebung innerhalb dieser vier Wände: der rote Besucherstuhl und das kupferrote Haar der Personalleiterin. Betrachtet man die genutzte Fläche auf dem Schreibtisch, so könnte man ohne Bedenken von Platzvergeudung sprechen. Eine Tischlampe und ein Laptop – beide weiß – sind dem Augenschein nach alles, was die Dame für ihre Arbeit benötigt. 

Mühelos versprüht Frau Jakobsen kühle Eleganz. Die attraktive Frau überfliegt Kaceys Bewerbungsmappe, während er auf dem roten Stuhl sitzt und die Augen auf das bodentiefe Fenster richtet, die Sehlöcher aber am laufenden Band zu der Dame schwenkt. 

Verdammt, warum musste sie so hübsch sein, beschwert er sich im Stillen. Als wäre sein Alltag nicht schon gespickt genug mit Stressoren. Das Sein ist ein einziger Hürdenlauf. 

Es bereitet ihm Mühe, den Blick von ihren glänzenden, gestriegelten Haaren abzuwenden. Keine Strähne fällt hier zufällig auf die sportliche Schulter. Der Bewerber wagt eine Schätzung. Im Höchstfall dreißig, hört er eine innere Stimme ihm zuraunen. Ein Altersunterschied von einhundertundzwanzig Monaten sollte heutzutage keine unüberbrückbare Distanz mehr darstellen, um Zweisamkeiten zu frönen. Und schon gleitet er in Fantasien ab, die mit dem Bewerbungsgespräch nicht mehr viel zu tun haben. 

Frau Jakobsen klappt die Mappe zu. 

»Sie haben also die allgemeine Hochschulreife vor zwei Jahren als Bester Ihres Jahrgangs erworben und als Drittbester in der Geschichte Ihrer ehemaligen Schule. Beeindruckend.« 

Wie macht sie das, fragt er den inneren Gesprächspartner. Ihre Stimme ist kühl und abgebrüht und gleichzeitig so unheimlich sexy. 

»Über die Zeit danach schweigt sich Ihre Vita aus«, fährt sie fort. »Was haben Sie in der Zwischenzeit angefangen?« 

Eine Fangfrage, weiß er. Vorsicht ist geboten und vor allem Bedenkzeit. Die verschafft er sich, indem er leicht aufsteht und sich von Neuem auf den signalfarbenen Stuhl bequemt. 

»Ich habe die Zeit überaus sinnvoll genutzt, um mich auf die anspruchsvollen Aufgaben vorzubereiten, die mich bei Ihnen erwarten. Heute kann ich sagen, ich bin bereit! Bereit durchzustarten mit großartigen, wegweisenden, bahnbrechenden, beispiellosen Ideen, die das Leben der Menschen nicht bloß um Facetten bereichern sollen, sondern um Quantensprünge!« 

Er klingt nach einem Zirkusdirektor, der die nächste sensationelle Nummer ankündigt. Sie muss ihre Hand vor den Mund nehmen, um das gedämpfte Schmunzeln zu verhüllen. 

»Sie sind also bereit?« 

»Gestiefelt und gespornt«, bestätigt er nachdrücklich. 

Beide wissen, dass er den Mund proppevoll nimmt. 

Mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem prüfenden Blick, der kompromisslos wirken soll, dehnt sie die dezent gefärbten Lippen zu einem angemessen zurückhaltenden Lächeln. 

»Wenn das so ist, möchte ich Ihrem Tatendrang nicht im Wege stehen. Wir wollen es mit Ihnen versuchen, Herr O’Breandan.« 

Unfähig, das Pokergesicht länger aufrecht zu erhalten, stößt er einen Freudenruf aus. Taktisch geschickt wäre es, die Emotionen nun wieder zu zügeln. Doch er denkt nicht daran, stattdessen vollführt er aus dem Stand einen Salto rückwärts, landet mit den Füßen auf den Armlehnen und streckt die Arme in ausladender Siegespose zur Decke. 

Die Welt weiß es noch nicht, aber er hat hier einen unwahrscheinlichen Sieg errungen. 

Die Überraschung im faltenfreien Gesicht der Personalleiterin legt sich zügig; seine unverfälschte Art stößt auf ihrer Seite auf Wohlgefallen. Verkehrt sie üblicherweise in einer Welt des Gefassten und Eingezwängten, so hebt sich der freie Gefühlsüberschwang des jugendlichen Mannes wohltuend vom Businessalltag ab. Der Ehrgeiz und der Siegeswille in seinen leuchtenden Augen verrichten ihr Übriges, um die Personalleiterin restlos zu überzeugen. Schließlich geht es lediglich um eine Praktikumsstelle. 

»Bringen Sie den gleichen Einsatz in Ihre Arbeit, und ich sehe rosige Zeiten auf Sie zukommen.« 

»Wann soll ich anfangen?«, fragt er durstig. 

»Jetzt gleich. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen einige der Räume. Bei der Gelegenheit lernen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen kennen. Sie warten schon sehnsüchtig auf den frischen Wind Ihrer großartigen Ideen.« 

Sie geht als Erste aus dem Raum und lässt die satinierte Glastür geöffnet. Er bleibt einen Moment zurück und dreht seinem Spiegelbild in der Scheibe eine lange Nase. 

Über einen Verbindungsgang gelangen sie zu den Großräumen. Dort stellt die Personalleiterin den verschlafen wirkenden Angestellten (es ist immerhin halb neun in der Frühe) den neuen Praktikanten vor. Es duftet überall nach frisch gerösteten Kaffeebohnen. Kacey muss sich überwinden, die angebotene Tasse Kaffee auszuschlagen, jetzt ist nicht die Zeit für einen gemütlichen Schwatz. 

Frau Jakobsen setzt die Führung fort. Ihr Ziel ist das nächste Großraumbüro, das durch die bodentiefhängenden Fenster lichtdurchflutet ist wie alle Räume in diesem durch Brücken und Übergänge verbundenen Gemisch aus verschiedenen Modulen. 

Als sie über eine dieser Brücken gehen, fällt sein entzückter Blick oft und gern auf ihre Wespentaille unter der weißen Bluse und den wohlgeformten Hintern, der in diesem enganliegenden weißen Kleid in italienischer Länge gut zur Geltung kommt. Ihr betont schwungvoller Gang lässt ihn darüber wundern, ob er wohl eine Eigenart ist oder ob sie tatsächlich mit ihm flirtet. 

Im Großraum angekommen folgt Kacey seiner Vorgesetzten in einem Abstand von einem Schritt. Der Raum ist zweigeteilt. Auf jeder Seite stehen drei Tische, an jedem Tisch sitzen zwei Sachbearbeiter. Die Frauen und Männer unterbrechen ihre Arbeit der Erstellung und Bearbeitung von Deckungsmodellen und Schadensfällen und nehmen sich Zeit für den Besuch, als Frau Jakobsen ihnen die hinzugekommene Unterstützung vorstellen will. 

Mitten im Satz spürt sie einen heftigen Ruck durch alle Glieder und wirbelt erschrocken herum. 

Vor fünfundzwanzig Augenpaaren steht sie da, nackt bis auf ihre seidene Unterwäsche. Ihr entrissenes Kleid und die Bluse liegen auf dem Boden. Die Münder aller, einschließlich Kaceys, sind weit aufgesperrt. Wie schon so oft sieht sich der junge Mann in der misslichen Lage, Gründe für Unergründliches liefern zu müssen. 

»Leute, ich weiß, wie das aussehen muss. Aber glauben Sie mir, ich war das nicht. Und überhaupt, wie hätte ich ihr denn in einem einzigen Streich die ganze Kleidung wegreißen sollen?« 

Sein Einwand überzeugt sie nicht. Er starrt in die stumme, sprachlose Runde und bleibt zuletzt in den geschockten Augen der entblößten Frau hängen. 

»Habe ich die Stelle noch?«, grinst er so unschuldig wie ihm möglich. 

Das Gebäude besitzt viele Nebentüren. Eine von ihnen geht auf, eine kräftige Hand befördert Kacey unsanft auf die Straße. 

»Ist ja schon gut! Flossen weg!«, protestiert er. Demonstrativ putzt er den Staub von der Schulter, dort wo die rüpelhafte Hand gelegen hat. 

Der Sicherheitsmann rückt seine Krawatte zurecht und verschwindet wortlos ins Haus. 

Frei vom Beisein anderer zeigen die Züge des frisch Gefeuerten eine Ernsthaftigkeit, die nur in Ausnahmefällen jemand zu Gesicht bekommt. Die trüben Gedanken gleiten in Tiefen hinab, die knapp über dem schwärzesten Meeresboden liegen. Verhalten bringt er die verhassten Worte der Niederlage über die schweren Lippen. 

»Du hast gewonnen.«

 

 

LOU

 

Der Reisigbesen fegt über die Fußgängerzone in Münchens Einkaufsmeile und kehrt lustlos den Müll der Leute zusammen. Der Halter des Besens ist Kacey, er trägt die orangefarbene Arbeitskleidung des Straßenfegers. Anstelle der Arbeitsschuhe trägt er nach wie vor die schwarzen Budapester. 

Es ist zehn Uhr, der Platz ist seit einer guten Stunde bevölkert. Mit einer Verspätung von knapp einhundertundachtzig Minuten hat der dem Kummer Nachhängende einiges an Entsorgung nachzuholen, und doch ist sein Arbeitstempo alles andere als flott. 

Ein Endzwanziger in gut sitzendem Anzug und gestreifter Krawatte wirft den ausgerauchten Zigarettenstummel achtlos vor Kaceys Putzgerät und geht weiter, ohne von seinem Mobiltelefon aufzublicken. Wahrscheinlich hat er nur den Besen perzipiert. 

Der Besenritter tut es ihm gleich und ignoriert ihn. Genauso, wie er die Menschenmassen um ihn herum aus der Wahrnehmung ausklammert, das Stimmengewirr ausblendet und in die Arme der eigenen Welt versinkt. Sein Leben verläuft ganz so, wie dieser Kehrbesen über die Straße reibt: scharrend, aufscheuernd, unentwegt Widerständen ausgesetzt. 

Ein zweiter Besen stellt sich seinem in den Weg und blockiert ihn. Er gehört Lou, einem ergrauten Mitkehrer, der ursprünglich aus Angola stammt. Die Stirnfalten lassen sich noch von Weitem deutlich erkennen, die Augenlider sind in jedem Gemütszustand auf halbmast gesetzt. Ein gelassener und besonnener Mann. 

»Warum bist du hier?«, fragt er mit kratziger Raucherstimme. 

»Was meinst du? Das ist meine Seite.« 

»Meine alten Augen wollen dich aber ganz woanders sehen, Junge. In Anzug und Krawatte und allem Kram. So wie der feine Typ vorhin. Die Uniform steht dir nicht. Ist nicht deine Farbe, verstehst du?« 

»Und wenn ich keine Krawatten mag?« 

»Dafür mögen sie dich, mach dir darüber mal keine Sorgen. Bist ’n gescheiter Bursche, hast Bücher gelesen. Nicht wie unsereins. Warum machst du nicht mehr daraus?« 

Kacey schweigt. Gar zu gern will er kurzerhand an ihm vorbei und weiterhin den kratzbürstigen Lauten seines Gerätes lauschen. Laute, die seine eigenen, inneren Stimmen zu übertönen vermögen. Er weiß, dass Lou es nur gut mit ihm meint. Im Augenblick aber hat er auf eine belehrende Predigt nicht die geringste Lust. Gleichzeitig kann er den Kollegen nicht ohne Bedenken so stehen lassen; seine Eltern haben ihm beigebracht, seinem Gegenüber egal welchen Alters oder Geschichte mit Respekt zu begegnen. Es spricht allerdings nichts dagegen, das Gespräch zu einem verkürzten Ende zu führen. 

»Ich werds mir überlegen«, der Gesprächsunwillige setzt sich in Bewegung, ohne Lous Reaktion abzuwarten. 

»Ich kenne dieses Gesicht«, ruft Lou ihm nach. »Du siehst genauso glücklich aus wie unser Kater, wenn er gebadet wird. Sags mir doch, junge. Ich wills wirklich verstehen.« 

Kacey geht nicht auf ihn ein und kehrt, kehrt dem grauhaarigen Mann den Rücken zu. 

Den Rest der Zeit bleiben beide für sich allein. 

Lou mag keine abgebrochenen Dialoge, sie lassen ihn mit einem merkwürdigen Gefühl der Leere zurück. Ein Gefühl, wie es beim Betrachten eines Puzzlespiels entsteht, das kurz vor der Komplettierung steht, aber das letzte Stück nicht aufzufinden ist. 

Gegen vierzehn Uhr, bevor sie in den Feierabend gehen, versucht er noch einmal, zu dem Jungen durchzukommen. 

»Hör mal, warum kommst du heute Abend nicht mal zu uns? Meine Frau ist ’ne anständige Köchin. Sie macht für dich sicher ’n hübsches Süppchen.« 

»Danke, Lou. Aber ich habe schon etwas vor.« 

»Sicher? Ich erzähl dir auch von meinen peinlichen Pannen mit dem anderen Geschlecht. Aber ich muss dich warnen, sie sind wirklich amüsant, sie könnten dir gefallen.« 

»Ich muss los. Wir sehen uns dann übermorgen, Lou.« 

Der Eilige wirft seine gelbumrandete schwarze Umhängetasche um den Körper und geht wie er ist, in der orangefarbenen Arbeitskleidung, von dannen. 

Schon ist der Junge aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. Der betagte Mann schüttelt mit dem Kopf, er wird einfach nicht schlau aus ihm. Und wenn er so darüber nachdenkt, wird ihm bewusst, dass Kacey nie ein Angebot von ihm angenommen hat. Das führt ihn zu der Annahme, dass sein introvertierter Mitarbeiter wohl nichts von ihm wissen will. Vielleicht übertreibt er es mit der väterlichen Zuwendung, vielleicht sollte er den Mündigen künftig in Ruhe lassen. Nicht leicht für jemanden, der über zwei Söhne und drei Enkelkinder wacht.

 

 

WORTE DER STERNE

 

Die Arbeitskleidung des Straßenkehrers, derer er sich in einer vor Blicken geschützten Ecke entledigt hat, liegt zusammen mit dem Blazer und der Krawatte ordentlich verstaut in der Umhängetasche. Die Ärmel des weißen Hemdes sind hochgekrempelt. Es ist halb drei, als Kacey auf eine Haustür zusteuert. 

Das Reklameschild gibt sich trotz seines hohen Alters keck wie ein Lausbub, der breit grinsend die lückenhaften Zahnreihen präsentiert. Einzelne Buchstaben sind verblasst oder haben sich teilweise vom Untergrund gelöst. Dennoch liest sich ›Tante Thildas kleiner Laden‹ ohne Schwierigkeiten. 

In der Scheibe des Fensters huscht sein schattiges Spiegelbild vorbei. Die Spiegelung zeigte noch etwas anderes, etwas Sonderbares: ein grauschweres Wolkengebilde rings um seine Schulter. 

Kacey drückt die Tür auf. Ein angenehmer Klingelton ertönt. Es ist eine Mischung aus dem Vogelgezwitscher im Frühling und den Glockenklängen des Eisverkäufers im Sommer. Hierher kommt er gern. Er hat nicht das Gefühl, seine zweite Arbeitsstätte zu betreten, sondern das Zuhause einer Freundin. 

Gleich im Eingangsbereich trifft er auf vier ungeöffnete Kartons, die darauf warten, von ihm einsortiert und in den Bestand aufgenommen zu werden. Vor über fünfzig Jahren war dieser Raum noch ein reiner Wohnraum. Das Platzangebot erlaubte es, einen Teil zu einem Verkaufsstand umzufunktionieren. Seitdem versorgt der Gemischtwarenladen die Umgebung mit nötigem Alltagskram und auch weniger nötigem Süßkram. Die Betreiber des Ladengeschäfts gaben jedoch acht, dass die Heimeligkeit eines entspannten, gemütlichen Wohnzimmers erhalten blieb. 

Hinter der Verkaufstheke steht eine Frau auf. Klein von Gestalt und groß im Herzen hält sie sich wacker auf ihren zweiundachtzigjährigen Beinen. Ihr Arbeitsmantel ist blütenweiß wie am ersten Tag vor mehr als fünf Dekaden. 

»Kacey, mein lieber Junge. Schön, dass du da bist«, sagt sie mit vibrierender Stimme. 

»Hallo, Tante Thilda. Wie geht es dir?« 

»Doktor Huber ärgert mich. Ich soll mit dem Verkaufen aufhören, sagt er. Dabei geht es mir wieder viel besser. Und außerdem, wer soll denn dann den Laden übernehmen, wenn ich Schluss mache?« 

Sie schaut ihn mit erwartungsvollen Augen an, und er weiß genau, was sie sich von ihm erhofft. 

»Wie ich sehe, ist die Lieferung schon da?«, lenkt er um. »Ich sollte gleich anfangen.« Eilig legt er die Umhängetasche ab. 

»Willst du nicht erst essen? Du bist doch bestimmt hungrig«, sie zeigt auf die heitere Sitzecke am Fenster. »Ich hab was Leckeres für dich zubereitet.« 

Auf dem dortigen Tisch steht ein roter, gemusterter Topf, der aus den Siebzigern stammen könnte. Wie zur Antwort knurrt sein Magen laut in den Raum. 

»Du hast recht«, gibt er zu. »Ich sollte mich erst stärken.« 

Er setzt sich an den Tisch und rückt den leeren Teller zu sich. Dann will er in den Topf luchsen und greift den Deckel am Henkel, lässt ihn aber unversehens wieder fallen. 

»Vorsicht, heiß«, warnt sie. 

Diesmal ist er vorsichtiger. Die Finger gewöhnen sich in kurzer Zeit an die Hitze, und er kann einen Blick hineinwerfen. Dicke Rauchschwaden entfliehen dem emaillierten Käfig und umwölken sein Gesicht. Er atmet tief und genüsslich ein. 

»Tante Thilda, du bist die allerbeste!« 

»Lass es dir schmecken, mein Junge«, kichert sie zufrieden. 

Speck, Linsen, Kartoffeln, Möhren und eine Stange Porree zeigen sich von ihrer besten Seite. Linseneintopf, sein Leibgericht. Kelle für Kelle füllt er den Teller. 

Thilda setzt sich ihm gegenüber auf den gepolsterten Stuhl. Wie sie ihm zusieht, bemerkt sie, dass ihre freudvollen Gedanken mehr und mehr von sorgenvollen überschattet werden. 

Sie kennt ihn nun schon zwei Jahre lang, und doch weiß sie nicht viel mehr über ihn, als dass seine irischen Eltern vor einundzwanzig Jahren nach München kamen. Das war ein Jahr vor seiner Geburt. Sie unterrichteten beide Englisch am Aurelia-Gymnasium, auf die auch Kacey ging. Als der Junge dreizehn war, verlor er beide Elternteile und lebte bis zu seinem achtzehnten Jahr in einem Waisenhaus. Nie hat sie ihn in Begleitung eines anderen gesehen, ob Bub oder Mädel. Er sollte nicht so verschlossen sein, wünscht sie sich. 

»Zwei Jahre ist das nun her, als du an meine Tür geklopft hast«, sagt sie wehmütig. »Du bist für mich wie ein Enkelsohn. Ich danke dem, der dich zu mir geschickt hat und dir, dass du mir in meinen alten Jahren noch zeigst, was Muttergefühle sind.« 

Kacey hört auf zu schlingen, er weiß, dass als nächstes ein ›aber‹ in Großbuchstaben folgt. Es tut ihm in der Seele weh, ihr nicht sagen zu können, was ihn bedrückt. 

»Aber es macht mich traurig, dich immer alleine zu sehen«, fährt sie fort. »Ich warte sehnsüchtig auf den Tag, an dem du mit einem netten Mädchen Arm in Arm durch meine Tür kommst.« 

»Vielleicht kommt dieser Tag eher, als du denkst, Tante Thilda«, spannt er sie auf die Folter. »Heute Abend habe ich ein Date.« 

»Nein, wie herrlich!«, strahlt sie wie ein Leuchtkäfer und schlägt die Handinnenflächen aufeinander. »Wer ist es? Ist sie hübsch? Aber natürlich ist sie das! Du musst sie unbedingt mitbringen! Ich werde doch noch Oma! Nein, was sag ich, sogar Uroma!« 

Erleichtert darüber, dass die Sorgenfalten in ihrem weichen Gesicht weggewischt sind, atmet er auf. 

»Es ist alles noch viel zu früh«, gibt er zu bedenken und sieht dabei merkbar müde aus. 

»Lass mich dir die Karten lesen!«, sie greift aufgeregt seine Hand. »Du weißt, ich bin gut darin. Es interessiert mich brennend, wie deine Zukunft aussieht.« 

»Ich weiß nicht, ich glaube, das lasse ich besser. Mir ist schon mulmig genug bei dem Gedanken, was im nächsten Moment passieren könnte. Geschweige denn, was morgen ist.« 

»Komm schon, Kacey, tu mir den Gefallen. Du willst mir doch nicht das alte, schwache Herz brechen, nach allem, was ich für dich gekocht habe.« 

Damit hat sie ihn am Wickel, und es gibt kein Zurück. 

Die hundert minus achtzehn Jahre alte Frau sieht harmlos aus, denkt er, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren. Seufzend willigt er ein. 

»Komm schnell mit«, sagt sie und läuft – gemessen an der hohen Zahl ihrer Tage – wieselflink durch den Perlenvorhang in den Nebenraum. 

Er steht vom Stuhl auf, als wäre er es, der hochbejahrt und gebrechlich ist. Was wird die Zukunft für ihn schon parat haben? Das, was ihn seit sieben Jahren plagt, wird er den Rest seiner Dauer erdulden müssen. Ohne Hoffnung auf Besserung, ohne Aussicht auf einen Moment des Glücks. Bevor die Gedanken in noch tiefere Gefilde der Finsternis hinabgleiten, folgt er der kinderlosen Frau in den Nebenraum. 

Dort angelangt, kann er nur noch den Kopf schütteln. Einmal in der Woche hilft er bei ihr aus, und jedes Mal staunt er über die heillose Unordnung im Lagerraum. Müßig, sie darauf anzusprechen, denn er kennt ihre Antwort. »Ein wenig Kuddelmuddel im Leben ist gut gegen Langeweile«, pflegt sie darauf zu sagen. Sie war wohl schon immer eine Verfechterin des Chaos. 

»Setz dich, mein Lieber«, ruft sie ihm zu. »Ich bin gleich bei dir.« 

Ein runder, zinnoberroter Tisch von geringem Radius wartet in kurzer Entfernung auf ihn. Er bahnt sich seinen Weg dorthin und setzt sich auf einen wackeligen, hölzernen Stuhl. Thilda erscheint mit einer verstaubten Schatulle in der Hand und nimmt Platz auf der ihm gegenüberliegenden Seite. 

»Was du hier siehst«, sagt sie, »ist mein größter Schatz. Meine Großmutter hat es mir vermacht. Es ist ein Familienerbstück und reicht bis zu neun Generationen zurück.« 

Sie öffnet die Schatulle und holt eine Anzahl überdimensional geratener Karten in antiquarischem, um nicht zu sagen abgewetztem Zustand hervor. 

»Es gab Tage, da hatte ich die größte Mühe, sie vor meiner tobenden Mutter in Sicherheit zu bringen. Sie sagte immer, diese Dinge wären Schund und Firlefanz. Falscher Zauber. Aber du denkst anders darüber, nicht wahr, Kacey?« 

»Worüber?«, fragt er vorgeblich ahnungslos. 

»Über diesen Schund und die geheimen Kräfte in der Natur.« 

Sie breitet die Karten in fein geordneten Fünfer-Reihen auf dem Tisch aus. Es sind vierundzwanzig an der Zahl. Die Rückseiten sind identisch mit den Vorderseiten. 

»Ich sehe es wie deine Mutter. Alles Humbug.« 

»Mhm«, unterbricht sie laut denkend ihre Handlung, »kann ich mich so sehr in dir getäuscht haben?« Sie kneift die Augen zusammen, mustert ihn. »Oder steckt dahinter mehr, als du sagen willst?« 

Sie hat es faustdick hinter den Ohren, erinnert er sich. Er hat das Gefühl, als könnte sie durch ihn hindurchsehen und seine verborgensten Gedanken an die Oberfläche zerren, einem quengelnden Buben gleich, der an den Lauschern in das hellste Tageslicht gezwungen wird, um sich bar jeder Kleidung einer Schar von strengen Augenpaaren zu stellen. 

Als er merkt, dass sein schiefes Grinsen unnatürlich wirken muss, räuspert er sich und zeigt auf die Karten. 

»Was muss ich jetzt tun?« 

»Wähle vier Blätter aus.« 

Mit dem angewinkelten Zeigefinger zwischen den Lippen präsentiert Kacey drei Reihen von Sorgenfalten auf der Stirn. Nach anfänglichem Zaudern führt er die Hand zu einer der Karten, nur um sie rasch wieder an sich zu reißen. Stattdessen gleitet sein Finger in gemessenem Tempo zu einem anderen Blatt, während er Thilda unablässig anstarrt. Vielleicht, so seine Hoffnung, kann er in ihren Augen einen Hinweis auf die Richtigkeit seiner Auswahl erhaschen. 

»Sei unbesorgt«, hilft sie ihm, »es gibt keine guten oder schlechten Karten. Schau dir einfach die Symbole an und lass dich von deinem Gefühl leiten.« 

Ihre Worte nehmen ihm so viel von der Anspannung, dass er sich auf die gestellte Aufgabe einlassen kann. Ihm wird bewusst, dass er eine höhere Affinität zum Aberglauben zeigt, als ihm lieb ist. 

Die Symbole auf den Karten sind ihm unbekannt. Es sind keine Tarotkarten, soviel weiß er. Er vermag keine Personen, Tiere oder Gegenstände auszumachen. Was er sieht, sind unförmige Strukturen, helle und dunkle, ohne nachziehbare Umrisse, die nur entfernt an etwas erinnern. Er könnte schwören, dass er in einem der dunkleren Flecken ein Auto sieht, das in der Mitte in zwei Teile bricht. 

Ein unerklärliches Gefühl des Unbehagens steigt in ihm auf. Ohne sich dessen bewusst zu sein, steuert seine Hand auf den unheilvollen Klecks zu. 

Nur einen Hauch, bevor der Finger auf dem Blatt landet, dreht sich die benachbarte Karte wie durch einen Windstoß herum. Kacey, plötzlich aus den düsteren Gedanken herausgerissen, legt die Hand augenblicklich auf das herumgewirbelte Blatt und lächelt Thilda unschuldsvoll zu. 

Sie scheint nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben. 

Beruhigt macht er sich daran, eine zweite Karte auszuwählen. Ihn zieht es zu einer in der zweiten Reihe von oben. Bevor er sie antippen kann, dreht sich wie durch Geisterhand an anderer Stelle ein Blatt herum. Sofort legt er die Hand auf die Geisterkarte, ganz so, als wäre sie seine erste Wahl gewesen. 

Thilda runzelt die Stirn. Was sie gesehen hat, kann sie nicht in Worte fassen. Darüber schüttelt sie unmerklich den Kopf. Es ist das Alter, begreift sie. Eines Tages holt es jeden ein und versorgt ihn mit Gebrechen und Sinnestäuschungen, um das Abschiednehmen aus dieser Welt leichter zu machen. Mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass bald auch sie im Wartezimmer von Gevatter Tod Platz nehmen muss, kehrt sie ihre Aufmerksamkeit dem jungen Mann zu, der noch am blühenden Anfang seines Weges steht. Was wird er wohl aus seinen Möglichkeiten machen? 

Zögernd führt Kacey den Finger an die dritte Karte heran. Zu seiner eigenen Verwunderung geschieht alles wie erwartet und verbleibt innerhalb nachvollziehbarer physikalischer Gesetzmäßigkeiten. 

Nun zur vierten und letzten Karte. Auch hier bleiben Überraschungen und unerwartete Wendungen aus, als er das Blatt berührt. Er macht ein beinahe enttäuschtes Gesicht. 

Thilda sammelt die vier Karten in der Reihenfolge ein, in der sie ausgewählt worden sind. Dann greift sie ein zweites Mal in die Schatulle und entnimmt ihr ein Utensil, dem die Zeit in gleicher Weise zugesetzt hat wie den Karten. Es ist ein handgroßes Büchlein, in Leder gebunden. Sie wendet vorsichtig die vergilbten, brüchigen Seiten um. 

»Nun, was sagen die Sterne?« 

»Nicht so ungeduldig, Kacey. Gib mir einen Moment, ich hab’s gleich.« 

Sie blättert im umfangreichen Büchlein so eilig, wie es die zum Bröckeln neigenden Seiten erlauben. Jede Seite zeigt die Darstellung einer möglichen Kombination von vier der vierundzwanzig Karten. Auf der gegenüberliegenden Buchseite steht der dazugehörige Text in Frakturschrift. Für die Entzifferung der Textstelle zieht sie ein Lorgnon heran, das sie vor die Augen hält. 

»Hör gut zu«, verlangt sie, »dies sind die Worte, welche die Sterne für dich geschrieben haben: Frei ist nur, wer Herr über sich selbst ist.« 

»Und was bedeutet das?« 

»Das, mein lieber Junge«, sie klappt das Buch zu, »musst du aus eigener Kraft ergründen. Horche in dich. Setz dich in einen dunklen, stillen Raum. Versuche, dich an deine Träume zu erinnern. Entdecke die Botschaften darin. Welche Gedanken kommen immer wieder zu dir? Welche Träume hast du?« 

Er überlegt einen Moment. 

»Starke«, antwortet er, als würde er eine Frage stellen. 

»Das ist doch gut. Träume können ein Wegweiser sein. Und wenn sie intensiv sind, wollen sie dir etwas sagen.« 

»Und wenn sie keinen Sinn ergeben?« 

»Verliere nicht die Geduld, wenn du die Zeichen nicht sofort deuten kannst. Es gibt keine sinnlosen Träume. Du wirst sehen, mit der Zeit werden sie sich dir offenbaren. Du darfst nur nicht aufgeben.« 

Die Türklingel läutet. Die Schallwellen tragen eine singende weibliche Stimme herbei. 

»Huhu, Thilda!« 

»Kundschaft«, sagt Thilda und macht sich daran, Frau Gerlinde zu begrüßen. 

Kacey bleibt sitzen. Sein Blick haftet an seinem Spiegelbild in der Scheibe des zinnoberroten Wandschranks. Der dunkle Rauch sitzt auf seiner Schulter, umkreist ihn und hüllt ihn ein. »Herr über sich selbst«, wiederholt er ihre Worte flüsternd. Er ist alles andere als ein Meister seines Geschicks. 

Für einen flüchtigen Augenblick offenbart die Staubwolke im Spiegelbild die Schadenfreude im Gespenstergesicht einer uralten Frau.

 

 

ERBE

 

Eine Frau in vorgerücktem Lebensalter reißt die Wohnungstür auf, ihr rasiermesserscharfer Blick schweift wie ein Scanner durch das Treppenhaus. Dies ist Bertha Diegen, Kaceys Vermieterin, sechsundsechzig Jahre, sie versprüht Gift in beachtlichem Maße. 

Ein paar Schritte von ihrer Drachenhöhle entfernt hält sich Kacey in der Nische vor dem Ausgang verborgen und ist mucksmäuschenstill. Er wartet ab, hört, wie die Tür zuknallt, bleibt aber in seinem Versteck. Nur wenn ihr Walrossschnaufen nicht mehr an sein Ohr dringt, kann er sich sicher sein, dass sie in ihre Wohnung verschwunden ist. 

Er späht um die Ecke, die Luft scheint rein zu sein. Er zieht die Schuhe aus, greift die Schnürsenkel, wagt sich hinaus in den Flur. Er muss an ihrer Höhle vorbei zum ersten strategischen Stützpunkt: den Treppenstufen. Die Holzdielen sind nahezu ein Jahrhundert alt, sie knarzen und zwingen ihn zu einem zermürbenden Schneckentempo. 

Er passiert die hellhörige Tür um keine fünf Schritte, da geht sie plötzlich auf, Frau Diegens Kopf schnellt heraus wie eine Giftschlange, die ihr Opfer um Haaresbreite verfehlt. Augenblicklich flüchtet er hinter das Treppengeländer und verschwindet im Halbdunkel. Dort verharrt er, bis sie den Rückweg in die eigenen vier Wände antritt. Dann schleicht er die knarrenden Holztreppen hinauf. 

Zwei Etagen später ist er im Dachgeschoss angelangt und sieht, dass da ein Mann vor dem Eingang zu seiner Wohnung weilt. 

Es ist ein gepflegt auftretender, passgenau gekleideter Herr mittleren Alters. Mitte fünfzig, schätzt Kacey. Nicht groß, nicht klein, nicht dünn und nicht dick. 

»Suchen Sie jemanden?«, flüstert er. 

Der Fremde antwortet auf Englisch. »Guten Tag. Ich warte auf Mr O’Breandan, Kacey O’Brean–« 

»Scht, leise!«, unterbricht der Flüsternde den laut und deutlich vernehmbaren Auswärtigen. Daraufhin springt auch er auf den englischen Zug auf. »Was wollen Sie denn von mir?« Geräuschlos steckt er den Schlüssel ins Schloss und schließt die Tür in sein Reich auf. 

»Dann sind Sie also–« 

»Scht! Kommen Sie rein.« 

Die beiden betreten die Wohnung. Kacey macht behutsam die Tür zu. Die verräterischen Quietschlaute erinnern ihn daran, das Scharnier einzufetten. 

»Also, wer sind Sie?« 

»Mein Name ist Ronn Mulligan. Ihre Vermieterin sagte mir, wo ich Sie finden kann.« 

»Sie haben mit Frau Diegen gesprochen? Sie hat einen Charme zum Dahinschmelzen, oder?«, witzelt er und zeigt auf einen Stuhl. »Bitte.« 

Mulligan wirft beiläufig einen Blick in den Raum. Unaufgeräumt, denkt er, und ignoriert dabei die hartnäckig aufdringliche Wortmeldung der Vokabel ›messy‹. Mr O’Breandan scheint in nächster Zeit wohl keinen Besuch zu erwarten. Und Frau Diegen ist mit Instandhaltungsaufgaben offensichtlich im Verzug, betrachtet man die mausgroßen Löcher in der Wand und den morschen Fensterrahmen. 

Der unerwartete Gast geht auf die angewiesene Stelle zu. Beim Aufsetzen der Füße gibt der hölzerne Boden ächzende Geräusche von sich. 

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich hatte die Befürchtung, dass sie mir jeden Augenblick mit ihrem Feueratem den Garaus macht«, witzelt Mulligan zurück. »Aber vielleicht waren es bloß die Sprachbarrieren, die ihre Geduld so bald ausschöpften.« 

Während er Platz nimmt und dabei wegen der Dachschrägen ständig das Gefühl hat, den Kopf einziehen zu müssen, verfolgt er den Bewohner dieser vier Wände mit unauffälliger Verblüffung, ohne sagen zu können, worum sich seine Verwunderung dreht. 

»Ich hatte den Eindruck, dass die Dame nicht gerade gut auf Sie zu sprechen ist«, fährt Mulligan fort. 

Mit dem Rücken zum Besucher sinkt Kacey vor dem Kühlschrank in die Hocke. 

»Ach, Sie wissen doch sicher, wie das so ist mit On-Off Beziehungen.« 

Er untersucht den kärglichen Inhalt des Kühlschranks bestehend aus überwiegend Dosenfutter und Fertiggerichten und hält inne, als keine Reaktion kommt. Er hatte wohl erwartet, dass die Witzelokomotive ohne Zwischenstopp weiterfährt. So wendet er sich fragend nach seinem Gast um. 

»Mhm«, murmelt Mulligan, »das sollte wohl ein Scherz sein.« 

Jetzt kann der Jüngling nur noch versuchen, vom Thema abzulenken. Die Getränkedose kommt ihm gerade recht. 

»Limo gefällig?« 

»Nicht meine Couleur, danke. Wir wollen jetzt bitte zum Punkt kommen.« 

Kacey öffnet die Dose, nimmt gluckernd einen herzhaften Schluck. Sein Adamsapfel springt auf und ab. 

»Schön«, sagt er keuchend und wischt sich mit der Rückhand über den Mund, »kommen wir zum Punkt.« 

Er nimmt den zweiten von zwei Stühlen im Raum. Dann setzt er sich gegenüber seinem Gast. 

»Sagen Sie, sind wir uns schon einmal begegnet?«, fragt Mulligan. 

»Das wüsste ich aber. Ich habe nicht viel zu tun mit Leuten in grauen Maßanzügen.« 

»Mir ist wirklich, als hätte ich Ihr Gesicht schon einmal gesehen.« 

»Ach herrje, sind die Scheine schon so weit im Umlauf?« 

»Wie bitte?« 

»Nichts, schon gut.« 

»Nun denn ... Ich komme aus Irland, Mr O’Breandan. Es hat mich eine Weile an Zeit gekostet, Ihren Aufenthaltsort zu lokalisieren. Dreiundsiebzig Tage, um genau zu sein.« 

»Und Sie verwechseln mich ganz sicher nicht mit einem Rockstar?« 

»Hieß Ihre Mutter Branna Hayden? Ihr Vater Carney O’Breandan? Und sind beide neunzehnhundertundvierundneunzig nach Deutschland ausgewandert?« 

»Ja«, bestätigt der mutmaßliche Rockstar. 

»Dann verwechsle ich Sie ganz sicher nicht«, rümpft Mulligan leicht affrontiert die Nase. »Mr O’Breandan, Sie haben eine Handvoll Jahre im Waisenhaus verbracht. Wussten Sie, dass Sie in Irland einen Verwandten hatten? Einen Onkel?« 

»Ich hatte einen Onkel?« 

Kaceys Ausdruck zeigt Erstaunen, gar Bestürzung und den Versuch, Erinnerungen heraufzubeschwören an etwas, das nie geschehen ist. »Meine Eltern haben mir nie etwas davon erzählt! Ich dachte immer, ich wäre – allein.« 

»Das Verschwiegenheitsgen muss wohl in der Familie liegen. Auch ich hatte meine liebe Not, Ihre Verwandtschaftsverhältnisse aufzuschlüsseln. Ihr Onkel hieß Deaglan O’Breandan.« 

»Ist er tot?«, fragt er kaum hörbar. 

»Herzversagen. Vor dreieinhalb Monaten. Jedoch nicht weiter tragisch, wenn Sie mich fragen. Mit sechzig Jahren hatte er ein ganz ordentliches Alter erreicht. Mehr, als ich ihm gegeben hätte, um die unverhüllte Wahrheit zu sprechen. Ich erinnere mich an unsere netten Unterhaltungen vor dem Kaminfeuer und daran, dass ich dem sturen Esel jegliches Wissen betreffs seiner Verwandtschaft Stück für Stück aus der Nase ziehen musste. Ich war sozusagen auf Popeljagd. Vergnügen hat sie mir keines bereitet. Aber mir war klar, dass ein einsamer, störrischer Bock nicht die Hundertjahrmarke erreichen würde. Und im Falle der Fälle musste ich vorbereitet sein und wissen, was zu tun ist. Irgendwann im letzten Winter konnte er sich dann doch noch dazu entschließen zu reden. Zuletzt wurde er immer nachdenklicher und weniger bockbeinig. Vielleicht fühlte er seine Zeit kommen, ich weiß es nicht. Jedenfalls wollte er, dass ich seine Familie ausfindig mache, falls ihm etwas zustoßen sollte. So erfuhr ich von seiner einzigen noch lebenden Verwandtschaft in Deutschland.« 

»Falls ihm etwas zustoßen sollte? Meinen Sie damit – Gangster? Mein Onkel verarschte die Unterwelt?« 

Schock und Stolz gehen unerwartet eine fette Verbindung ein. 

»Nicht im Entferntesten, wo denken Sie hin? Ich stellte Ihrem Onkel sogar die Kompetenz in Abrede, Erstklässler über den Tisch ziehen zu können. Er war ein Eigenbrötler, wie er im Buche steht. Kontaktscheu, zurückgezogen, keine Frau, keine Kinder. Er kam aus den eigenen vier Wänden kaum heraus. Man musste ihn schon zu seinem Glück zwingen, und mit ›man‹ meine ich mich selbst.« 

»Dann bin ich also offiziell der letzte«, resümiert Kacey resigniert. 

Obwohl nicht neu, trifft ihn die Nachricht wie am ersten Tag ihrer Übermittlung, als er noch dreizehn war. Die aus der Mitteilung resultierende Erkenntnis sickert ein zweites Mal wie Säure in die Magengegend. 

»Schöne Scheiße.« 

»Sie sind eine bedrohte Art, Mr O’Breandan. Aber kein Grund zu verzagen, denn ich bin auch Verkünder einer frohen Botschaft. Als der Nachlassverwalter Ihres Onkels bin ich hier, um Sie über Ihr Erbe zu unterrichten. Ab sofort nennen Sie ein prächtiges Anwesen mit acht Räumlichkeiten Ihr Eigen. Acht Zimmer, die Sie nach Herzenslust mit kleinen Scheißern bevölkern können, wenn wir bei der Fäkalsprache bleiben wollen, die Sie Jugendliche so schätzen.« 

»Nein«, entgegnet Kacey unmissverständlich. 

»Wie meinen?« 

Der Erbe wider Willen steht vom Stuhl auf und dreht seinem Besucher den Rücken zu. 

»Meine Antwort ist nein, Mr Mulligan.« 

Dem Juristen verschlägt es die Sprache. Tonlos sieht er dem unbilligen jungen Mann zu, wie er auf das geschlossene Fenster zugeht. 

Kacey schaut gedankenvoll auf die Straße. Er überlegt, ob er dem Mann eine Erklärung schuldet. 

»Ich kann das unmöglich annehmen«, sollte genügen. 

»Ist es aufgesetzte Bescheidenheit, oder meinen Sie das ernst?«, versucht Mulligan herauszufinden. »Es ist eine beachtliche Hinterlassenschaft, über die ich sprechen möchte. Ihr Onkel war vermögend, wie Sie wissen sollten.« 

»Umso schlimmer.« 

»Es übersteigt mein Begriffsvermögen, wieso Sie – warten Sie, ich habe hier Fotografien von seinem Anwesen.« Er stöbert in seinem Aktenordner. »Manche lesen Literatur nur, wenn sie auch Bilder liefert.« 

Kacey legt eine ruhige Hand auf den Ordner. 

»Das ist es nicht, Mr Mulligan«, unterbricht er den Rechtsgelehrten. Dieser sieht auf zu ihm, schaut ihm in die ernstlichen Augen. »Wenn ich dieses Erbe antrete, bedeutet es großes Unglück. Für mich und jeden, der das Pech hat, meinen Weg zu kreuzen. Es sieht mich am liebsten auf allen vieren durchs Leben kriechen. Und wenn ich mich dagegen aufbäume, wenn ich ihm die Stirn biete, wenn ich auch nur den Gedanken dazu entwickle, will es mich nur noch tot sehen.« 

»Ich muss gestehen, ich verstehe kein Wort. An meiner Begriffsstutzigkeit wird es wohl kaum liegen. Sie ziehen es also vor, in diesem ... Schlupfloch zu hausen?« 

»Dieses Schlupfloch bietet mir einen coolen Ausblick auf eine Ziegelwand.« 

Tatsächlich stößt der Blick bereits wenige Meter in die Welt hinaus auf besagtes Hindernis. 

»Ich muss Ihre genussfeindliche Einstellung wohl als solche hinnehmen. Ich bin mir bewusst, dass es viele Arten von Angst gibt. Zum Beispiel die Angst vor Reichtum und Wohlstand, Plutophobie. Oder die Angst vor dem bloßen Sein, das sogenannte O’Breandan-Syndrom.« 

»So witzig, Mr Mulligan? Mein Onkel ist heimgegangen, und Sie machen Witze.« 

»Ich bemerke ebenso wenig Trauer auf Ihrer Seite.« 

»Ich kannte ihn überhaupt nicht!« 

»Ich kannte ihn sehr gut, den alten Mistkerl.« 

Remis. Beide schweigen in der Pattsituation. 

»Hören Sie«, hebt Mulligan erneut an, »ich habe eine Tochter in Ihrem Alter. Die Widerspenstigkeit und der Starrsinn der Jugendlichen sowie ihr irrationales Handeln sind mir also nicht unbekannt. Ich möchte Sie lediglich um eine kleine Gefälligkeit bitten. Schauen Sie sich nur mal die Fotos an. Sie werden dann mit Sicherheit anders über die Angelegenheit denken.« 

Mulligan öffnet den Aktenkoffer und sucht nach einem USB-Stick. 

»Ich habe mir erlaubt, einige der hochauflösenden Bilder auf diesem Speicherstick zu archivieren.« 

Er schaut sich um. 

»Wo haben Sie Ihren Laptop?« 

»Ich habe keinen«, antwortet der Befragte. 

»Macht nichts, ein Desktop-Rechner geht auch.« 

»Ich habe keinen«, wiederholt Kacey geduldig. 

Mulligan ist leicht überrascht. Nun ja, eine Computerlosigkeit kann ja mal vorkommen, denkt er sich. Ungewöhnlich in diesen Zeiten, aber nicht undenkbar. 

»Auch gut, dann geben Sie mir doch die Nummer Ihres Handys. Sobald ich meinen Rechner in die Finger kriege, schicke ich Ihnen die Bilder auf elektronischem Wege zu.« 

»Ich habe keins, Mr Mulligan.« 

Der Angereiste mustert den Jungen mit zusammengekniffenen Augen. 

»Ich habe verstanden, Mr O’Breandan.« 

Kacey schweigt. Er hat nichts verstanden, denkt er und setzt sich. Dafür steht sein angesäuerter Besucher auf. 

»Ihr letztes Wort, Junge.« 

»Verkaufen Sie das Haus«, murmelt der Erbe, ohne aufzublicken. »Der Erlös soll einem guten Zweck zukommen.« 

Mulligan legt seine Karte auf den Tisch. 

»Manche wissen einfach nicht, wann ihnen das Glück zulächelt. Sie haben dreißig Tage Zeit, um sich zwischen Limo und Champagner zu entscheiden. Einen schönen Tag.« 

Der Anwalt schließt die Tür hinter sich und lässt den letzten O’Breandan einsamer als je zuvor zurück.

*

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