Vor der Verwandlung

DER GRINSER

 

Auf dem Balkon des elften Stockwerkes eines Gebäudes, das die Bezeichnung Neubau seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr verdient, liegt ein Vierzigjähriger in einer farbenfroh gelben, eng umschlingenden Hängematte und frönt an diesem sonnenlichterfüllten Tag der luftigen Höhe und der Nähe zu den Sternen. Er übertreibt es mit der Schaukelei. Nicht selten hängt er auch mal vollständig im Freien mit Nichts unter sich und saugt fasziniert den Anblick der Tiefe, des Abgrundes in sich auf. Angst verspürt der jünger aussehende Mann, der auf den Allerweltsnamen Gregor hört, offenbar nicht im Geringsten. Obwohl der Tag bereits fortgeschritten ist, trägt er noch den roten Morgenmantel, dessen Wolle schon lange die samtene Weichheit eingebüßt hat. Der Seitenscheitel, der durch Gel gut in Form gehalten wird, flattert nur mit den Spitzen auf und ab. Auf gleicher Höhe fliegend mit Sperlingen und Tauben grinst er. Eigentlich ohne Grund. Doch ist die grundlose Freude nicht die schönste Freude im Leben?

Hinter der Glastür, die den Balkon mit den Räumlichkeiten der Wohnung verbindet, nähert sich eine plumpe Gestalt und drückt das kreisrunde Gesicht gegen die Scheibe, bis die breite Nase auf die Höhe einer Broschüre reduziert ist. Das Riechorgan gehört einem schätzungsweise Vierjährigen, der gefangen ist im großen, grobförmigen Körper eines pubertierenden Fünfzehnjährigen. Wäre er als Tier auf die Welt gekommen, würde er jetzt wohl als zotteliger, tollpatschiger Bärenjunge gegen die Tür stoßen. Am ehesten ist er noch vergleichbar mit der Figur des Junior Gorg, der unermüdlich den Fraggles nachstellt.

Seine Augen im maskenhaften Gesicht wandern hin und her. In vollkommen deckungsgleicher Schwingung und identischer Zeit verfolgen sie die signalfarbenbetonte Hängematte, wie sie einmal nach links und einmal nach rechts tänzelt. Der Mund ist offen, die Zunge klebt an der beschlagenen Scheibe. Das Kondensat nimmt ihm mehr und mehr die Sicht.

Irgendwann genügt ihm das dunstvoll verschwommene Bild nicht mehr und er öffnet die Tür. Vom Geräusch aufgescheucht richtet Gregor seinen Blick zur Tür und zum eindringenden Eindringling.

»He, wer bist du denn? Wie kommst du in meine Wohnung und überhaupt, was willst du hier?« 

Der dumpfe Junge im besten pickeligen Alter hopst und trampelt grinsend an ihn heran, die Zunge bleibt draußen. Das Bild beschwört den Gedanken an das allzu romantisch veranlagte Mädchen herauf, das unsterblich verliebt im Rosengarten umherhüpft. Der Trampel zeigt unfreiwillig Bauch, da das T-Shirt mindestens drei Nummern zu eng geraten ist. Auf der anderen Seite, quasi als Ausgleich, ist die Dreiviertelhose mindestens drei Nummern zu breit. Aber da eilen ihm die treuen bunten Hosenträger rechtzeitig zu Hilfe. Ungefragt legt er seine Wurstfinger auf die baumwollene Matte und gibt dem Schaukelnden zusätzlichen, freilich unerwünschten Antrieb.

»He, hör auf damit! Lass das sein! Hau ab, sonst mach ich dich alle, du verdammter Penner!«

Der Schaukelnde hätte vielleicht das Gegenteil verlangen sollen. Denn wie jeder weiß sind Verbote für einen, auch im Geiste, Vierjährigen besonders verlockend. So grinst der grobe Schlingel noch breiter und schubst den Erbosten in noch luftigere Höhen, bis sich die Matte schließlich überschlägt und eine vollständige Drehung absolviert. Gregor kann sich an der Hängematte festhalten, wenn auch angestrengt. Doch er weiß, dass er auf verlorenem Posten steht, wenn er nicht umgehend etwas unternimmt. Mit Worten lässt sich der dumpfe Junge nicht beeindrucken.

Gregors weite Augen haben ein neues Ziel ausgemacht. Die Perlenkette, die der Troll um den dicken Hals trägt. Als die Hängematte den Pfad zum speckigen Jungen zurückfliegt, springt Gregors Pranke an den Hals des Jungen und ergreift sogleich die Kette. Die Schaukelei endet jäh. Doch die Gefahr für Leib und Seele ist damit nicht gebannt. Der Schlingel legt seine kräftigen Unterarme auf ihn und verdammt ihn auf diese Weise zur Bewegungslosigkeit. Gregor windet sich hin und her, doch er schafft es nicht, aus der Hängematte herauszukommen. 

Für einen Moment gibt er Ruhe, genauer gesagt, er ist vor Schreck gelähmt, als er sieht, wie ein kopfgroßes Insekt den Nacken des Schlingels hinaufklettert und auf seinem Haupte Platz nimmt. Es sieht aus wie ein Käfer, vielleicht mutiert oder mit Gammastrahlen beschossen. Der Junge scheint das Monstrum nicht zu bemerken. Stattdessen fährt er die speichelvolle Zunge über die breite Nase. Dann gibt er der Matte glucksend einen kraftvollen Stups. Diese wirbelt um die eigene Achse und Gregor fliegt heraus. Die Perlenkette reißt, der empfindungsarme Bursche rührt sich kein Stück. Gregor stürzt ins Freie, doch er kann sich im letzten Moment am Fuße des Geländers festkrallen. 

Er hängt nun über der bodenlosen Tiefe. Er sollte den Jungen nicht weiter provozieren. Lieber sollte er ihm gut zureden und sich gleichzeitig hocharbeiten. Doch seine Empörung gewinnt die Oberhand und erlaubt nur noch negative Gefühlsausbrüche.

»Ich werde dir die Scheiße aus dem fetten Leib prügeln, du Arsch! Warte, bis ich oben bin!«

Der Schlingel schaut ihm dabei zu, wie er sich abmüht, festen Boden zu gewinnen, und lacht, ohne die Lippen zu öffnen.

Ein Trio, Drillinge, achtjährig, kommt gerade rechtzeitig an, um den Showdown mitzuerleben. Mit Essensresten bekleckert stehen sie an der Tür, schlecken ihr Eis und finden sichtlich Vergnügen an der Vorführung.

Der vierjährige Fünfzehnjährige greift Gregor ungehobelt an den Handgelenken. Irgendetwas sagt Gregor, dass der Spaß für ihn nun endet. Mühelos löst der Schlingel Gregors Hände vom Untergrund und schleudert ihn hinfort, weit genug, dass er auch ja nichts Rettendes finden möge.

Die Drillinge laufen augenblicklich zum Geländer hin und verfolgen prächtigst amüsiert den tiefen Fall des roten Morgenmantels und den immer leiser werdenden Todesschrei. Ein Drilling lacht lauter als die anderen und erregt die Aufmerksamkeit des großen Jungen. Der vor Freude glucksende Troll schnappt sich die Füße jenes Drillings und schleudert ihn hinaus in die weite Welt.

Das zum Fliegen genötigte Küken schreit panisch, als die Schwerkraft es in die Arme von Mutter Erde treibt.

Die übrigen Kids verstummen auffällig abrupt und suchen unauffällig davonschleichend den Weg zur Tür. Doch der Aufprall ihres Drillings erfolgt zu früh, so dass der große Junge sich zu schnell ausamüsiert und nach mehr verlangt. Die zum Zwillingspaar degradierten Kids suchen nun lauthals das Weite. Mit ihrem Lamento und ihrer Zappelei jedoch behindern sie sich gegenseitig, so dass der vergnügt her walzende Trampel die beiden locker einholt, einfängt und mit den tomatenroten Köpfchen im Schwitzkasten an den Traumort zurückkehrt. Er entlässt sie in die Freiheit, als würde er Süßigkeiten verteilen.

Im Kicheranfall schaut er den Bonbons nach und ergötzt sich an der Panik in ihren großen feuchten Augen … mit dem hübschen Mutantenkäferhut als letztem Schrei.

Alles wird schwarz.

Nur allmählich fällt Licht auf die Pupille. Die Lider gehen auf wie ratternde, tonnenschwere Burgtore. Gregor braucht einen ausgedehnten Moment, um zu erkennen, wo er sich befindet. Er nimmt die Decke nur leicht beiseite. Für mehr reicht die Kraft und die Lust nicht. Das steil einfallende Sonnenlicht bedeutet nichts Gutes. Lethargisch streckt er die Hand aus nach seinem Herrn, dem vermaledeiten Wecker. Dieser erzählt etwas von der zwölften Stunde und ringt dem Verschläfer einen übel gelaunten Kommentar ab, den sich der Schonungslose mit der Knopfnase und dem wandernden Schnurrbart schon des Öfteren, eigentlich täglich in den letzten Tagen, anhören musste.

»Scheiße.«

 

 

ICH HABE VERSTANDEN

 

Schauplatz: Ein Zeitungsverlag, der für ein landesweit bekanntes Revolverblatt verantwortlich zeichnet.

Gregor schlurft müde zu seinem Arbeitsplatz. Ein Kollege, Tommy, kommt ihm entgegen. In seiner Energie bildet er einen scharfen Kontrast zum Schlurfenden.

»He, Tommy. Wie geht’s?«

»Besser als dir, Kumpel. Viel besser. Der Chef will dich sehen.«

»Will er mich streicheln oder knutschen?«

»Ich denke, er will’s dir so richtig besorgen.«

Gregor schiebt mit gebotener Zurückhaltung die Tür vom Chefredakteur auf. Dieser ist in die Zeitung von heute vertieft. Ohne den Kopf zu rühren, blickt er auf. Die Augenbrauen zeigen in gestrenger Weise zur brillengeschmückten Nase.

Gregor hält es für angemessen, das Schweigen zu brechen, bevor es peinlich wird. 

»Sie wollten mich sprechen, Herr Trugmann?«

»Sie sind gefeuert, Ziefer.« 

»Was?«

»Wie klingt das?«

»Wie bitte?«

»Sie sind kurz davor! So kurz davor!«

Wie kurz Gregor davor steht, seine Sachen packen zu dürfen, das zeigt Herr Trugmann mithilfe seines Daumens und seines Zeigefingers sehr anschaulich.

»Das ist das dritte Mal in dieser Woche, dass Sie von Ihren feuchten Träumen nicht rechtzeitig ablassen können. Eine vierte Nummer auf meine Kosten werde ich nicht dulden, haben wir uns verstanden? Im Übrigen waren Sie nie die hellste Leuchte hier. Die Qualität Ihrer Meisterwerke ist miserabel, und ich überlege nicht erst seit heute, ob ich Sie nicht auf die Straße werfen sollte zu dem, was da keucht und fleucht.«

Wow, er ist heute wirklich in Form. Gregor kann nicht mehr tun, als ihm den offenen Mund zu präsentieren.

»Ich will Ihnen einen väterlichen Rat geben, Söhnchen. Bevor meine Überlegungen Substanz annehmen, sollten Sie sich eine neue Landefläche suchen. Für den Fall der Fälle, verstehen Sie?«

Herr Trugmanns Ungeduld tritt für gewöhnlich zügig ein. Er hatte ein flottes zustimmendes Schwanzeinziehen erwartet. Doch dieser Kerl wagt es, mit dieser erstarrten Visage seine Rechnung zu durchkreuzen. 

»Hören Sie mir überhaupt zu, Ziefer?«

»Ja, Herr Trugmann. Ich habe verstanden.«

Leise wie er gekommen ist, so leise entflieht er den zürnenden Augen seines Chefs.

*

ZUM TITEL