In einer Nacht im Lande Mordra im Zeitalter der Tosenden Wasser. Nach der Zeit des Großen Tieres. Vor der Zeit der Großen Sintflut.
Der Sturmregen peitscht über das kleine Land und hält mächtige Bäume in seinem Schüttelgriff.
Ein Mann stapft durch den matschigen Grund und kämpft mit aller Kraft gegen die boshaften Elemente an. Der dunkle Mantel und die eng um den Kopf geschlungene Kapuze machen ihn kaum wahrnehmbar für das Auge. Seine Reise geschieht bar jeglicher Bewaffnung. Er trägt weder Schwert noch Dolch, sondern führt lediglich ein kleines, stumpfes Messer bei sich.
Die Hoffnung, auf eine überblickbare Ebene zu gelangen, die dazu noch mit ausgelegten oder gar gepflasterten Straßen aufwartet, hat er lange aufgegeben. Die Karte scheint der Wahrheit zu entsprechen, dieses Land ist ein einziges zusammenhängendes dichtes Waldgebiet.
Im Lichte eines krachenden Blitzes erblickt er eine Hütte und steuert darauf zu.
Er hämmert kräftig an die Holztür, um den Laut des Donners zu übertönen. In der Hütte brennt kein Licht. Der Kapuzenmann vermutet, dass der Hausherr bereits schläft. Doch es hilft nichts, er muss einen Unterschlupf finden. Das Wetter in dieser Nacht verheißt nichts Gutes. Seine Faust donnert mehrere Male gegen die Tür.
Der Wind heult auf. Als zuckte er bei jedem Schlag gegen das Holz zusammen.
Es regt sich nichts hinter der Tür, anscheinend ist niemand daheim.
Während der Mann Überlegungen anstellt, ob er sich ungefragt Eintritt verschaffen oder auf den Hausherrn warten soll, der sich allem Anschein nach und aus welchen fraglichen Gründen auch immer außerhalb der sicheren Zone seiner eigenen vier Wände aufhalten muss, ist eines gewiss: Eine Umkehr ist ausgeschlossen. Seine nun schon Jahre währende Wanderung durch halb Arve brachte den Erschöpften schließlich nach Mordra, wo die Signatur seines Meisters am stärksten ist. Er muss hier sein, irgendwo in diesem Land, ist er sich sicher. Zumindest muss er es bis vor kurzem gewesen sein. Er will seine Suche fortsetzen, in ausgeruhtem Zustand, bei Tageslicht und, mögen es die Göttinnen geben, bei strahlendem Sonnenschein. Das Land der Morder ist eine einzige Wildnis. Wohin man sich auch wenden mag, nichts außer Schlick und Urwuchs.
Der Reisende hat sich längst entschieden. Diese Hütte ist das erste Zeichen von Zivilisation, das er seit zwei Tagen erblickt. Als seine hagere Hand die Tür aufschieben will, erkennt er tiefe Kratzspuren in der hölzernen Tür. Raubtiere?, fragt er sich. Wie zur Antwort ertönt in diesem Moment ein Geheul aus weiter Ferne, gleich des Jammers einer gemarterten Seele. Die Hand will die ursprüngliche Absicht wieder aufnehmen und die Tür öffnen. Zu seiner leichten Überraschung stellt er fest, dass sie sich nicht aufschieben lässt. Sie muss von innen verriegelt sein.
Der Mann schlägt erneut gegen die Tür, nicht ohne seinen Hieben eine Note der Beschwerde zu verleihen.
»He! Macht auf! Ich bin ein Wanderer! Ihr habt von mir nichts zu befürchten!«
Der Wind heult auf. Vielleicht, um ihn zu verstummen.
Dem Sturme zum Trotz hört der Mann ein Geräusch hinter der Tür. Es klang, als wäre jemand gegen etwas gestoßen. Dann ertönt aus dem Inneren nur noch Stille. Ein letztes Mal schlägt er wortlos gegen die Tür. Offensichtlich ist er hier nicht willkommen. Doch soll er seine Manieren walten lassen und den Wünschen des Mannes mit seinem Fortgang entsprechen? Er kann nicht riskieren, im Morast zu versinken oder von Wölfen angefallen zu werden. In einer Nacht wie dieser sind selbst Begabungen für Magie kein Garant fürs Überleben.
Zu seiner großen Überraschung öffnet sich die Tür einen Spalt. Heraus schauen helle, angsterfüllte Augen. Plötzlich schießt ein Arm hervor, packt und zerrt den Überraschten hinein. Die Tür geht hastig zu und wird wieder verriegelt.
Der Kapuzenmann kann sich nicht erinnern, jemals derart ruppig behandelt worden zu sein. Nicht in all den Jahren der Wanderschaft und auch nicht davor. Doch will er seine Beschwerde diesbezüglich nicht vortragen. Er ist froh über das Dach, das ihm nun Zuflucht bietet vor den wütenden Elementen der Natur. Froh darüber, dass er niemandem wehtun musste. Die mondhafte Blässe im Gesicht des zitternden Hausherrn verwundert ihn jedoch.
»Ich möchte meine Worte erneuern und Euch vergewissern, dass Ihr von mir nichts zu befürchten habt. Sobald die ersten Sonnenstrahlen die Erde treffen, seht Ihr mich verschwinden.«
»Ihr macht mir keine Angst, werter Herr. Wer bei diesem Wetter auf Reisen ist, ist selbst zu bemitleiden.«
Da ist etwas Wahres dran, muss der Reisende zugeben. Auf der anderen Seite hat dieses Nervenbündel nicht die geringste Ahnung von der Mission des Wanderers, von der das Überleben seines Zirkels abhängt. Vielleicht rührt das Beben im augenscheinlich der Völlerei nicht abgeneigten Körper des Hausherrn lediglich von der Kälte des Raumes her. Doch auch in Sachen Esslust will er sich nicht über den Mann mokieren, denn es gab Zeiten, da auch der Reisende selbst seiner Dickfleischigkeit wegen Hässliches ertragen musste. Seine bemühte Suche nach dem Meister hat seine Kräfte aufgezehrt, körperlich als auch mental. Der Mantel, der einst auf einen korpulenten Körper fiel, hängt nun lose um die schlanken Knochen.
»Ich bin dankbar für das Obdach und möchte nicht unverfroren erscheinen. Aber hättet Ihr wohl die Güte, mir etwas zu Essen zu geben? Mein Magen knurrt seit zwei Tagen ohne Unterlass.«
»Gewiss doch, mein Herr! Nehmt dort am Tisch Platz.«
Der Reisende sieht sich um und versucht, in der Dunkelheit des Raumes den angewiesenen Tisch auszumachen. Der beleibte Hausherr eilt zum mit Brettern verriegelten Fenster und fegt mit seinem Ärmel hastig über den darunter liegenden hölzernen Tisch.
Plötzlich hält er den Atem an. Er wirkt wie erstarrt. Nach einer Zeit, die für beide wie eine Ewigkeit anmuten muss, führt der Hausherr die Handlung des Fegens fort, als wäre nichts geschehen. Dann hastet er zur Feuerstelle, wo der Kochtopf hängt. Auf dem Weg dorthin hält er nochmals abrupt inne. Wie zur Säule erstarrt steht er mitten im Raum und rührt sich nicht mehr.
Gilt seine ganze Aufmerksamkeit dem sich in Strömen ergießenden Regen? Oder seinem festen Begleiter, dem wehklagenden Sturmhauch?
Der Wanderer ist einmal mehr verwundert über den Hausherrn. Dieser erwacht aus der Starre und tastet sich weiter voran zum Topf.
»Die Suppe ist bereits fertig. Doch leider ist sie schon seit Stunden erkaltet.«
Der Hausherr füllt einen Teller und legt ihn auf den kleinen, knarrenden Tisch. Der Wanderer setzt sich triefnass auf den gleicherweise knarrenden Stuhl.
»Ob warm oder kalt, Hauptsache, mein Magen ist besänftigt.«
»Wie soll ich Euch rufen, edler Gast?«, will der Hausherr wissen.
Für einen Moment rührt sich der Geladene nicht. Dann stellt er sich wieder auf die Füße.
»Verzeiht den Mangel an Manieren, guter Mann. Bisweilen vergesse selbst ich, der ich aus einem Hause stamme, in welchem großer Wert auf Sittsamkeit gelegt wird, die Gebote der Höflichkeit.«
Der Fremde setzt die Kapuze zurück und entblößt das hagere längliche Gesicht, welches frei von Falten und jugendlich ist. Allein die vereinzelt auftretenden grauen Haare im fingerlangen Spitzbart deuten auf eine gewisse Reife hin.
»Ruft mich Estar, den Mann aus Ebrylon.«
In Wirklichkeit war es nicht die Vergesslichkeit, sondern die Vorsicht, die ihm gebot, die Kapuze über das Gesicht zu halten. Denn seine helle, zum bläulichen neigende Haut weist eine Besonderheit auf, die ihm noch überall, wo er einst gewesen war, Widrigkeiten eingebracht hatte. Unter der dünnen Haut der linken Wange sitzt ein daumennagelgroßer Diamant, von dem tiefrote und tiefblaue Blutgefäße abgehen.
Fasziniert starrt der Hausherr auf den Stein, der das einfallende Mondlicht in allen Farben zurück reflektiert.
»Darf ich nun meinerseits den Namen des guten Mannes erfahren, dem ich die sichere Unterbringung für die Nacht verdanke?«
»Gerch, mein Herr! Ich heiße Gerch!«
»Nun, Gerch …«, fährt Estar fort und setzt sich zurück auf den Stuhl. Mit dem Finger zeigt er auf die Petroleumlampe, die er an der Wand hängen sieht. »Wollt Ihr denn nicht Licht machen, damit—«
»Nein!«, wirft Gerch entschieden ein. »Kein Licht!«
*
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