Freier Fall

DER DURST

 

Autos, Busse, Abgase. Festgefahrene Menschen. Manche in Anzügen, manche in Lumpen.

Der Alltag. Wie er Eik anwidert. Seine verächtlich blickenden Augen wandern quer über den Marktplatz. Der Ort ist bevölkert von Ameisen auf zwei Beinen. Kopflosen Lämmern. In sich selbst verliebten Gockeln. Den größten Verdruss bereitet Eik der Gedanke, dass er selbst zu denen gehört, die er so sehr verabscheut. Seine schnörkellose Kleidung und die brave Scheitelfrisur entlarven ihn als Abkömmling einer gutsituierten bürgerlichen Familie, ein Bursche vom Lande.

In schnellen Schritten geht er auf und ab, seine abgekauten Fingernägel weisen ihn als ein Nervenbündel aus. Sein fein gezeichneter tiefdunkler Schatten, den der lichte Sonnenschein auf die Fassade eines baufälligen Gebäudes wirft, starrt ihn unschlüssig an. Wer ist er wirklich? Ist er Eik, der Sohn eines Lehrers und einer Psychologin? Oder ist seine irdische Hülle besetzt von jemandem, dessen Eltern Freiheit und Individualität heißen? Was ist mit mir geschehen, fragt er sich. Der eine Fuß brennt, der andere friert.

Die trüben Gedanken verflüchtigen sich, das Gesicht hellt auf, als sein Blick auf den Mann vor ihm fällt. Er kennt Hauke aus Kindheitstagen. Er hatte ihn schon immer bewundert. Seine coole Art, die Dinge zu handhaben. Wie er dasitzt, auf seinem Motorrad, mit dem breiten Rücken und den ausgebreiteten Armen. Wie ein Adler, denkt Eik. Haukes Hände, versteckt hinter staubbedeckten ledernen Handschuhen, ruhen auf dem Lenkrad. Der Motor läuft noch, bereit, jeden Augenblick aufzuheulen und eine gewaltige Anzahl von Pferdestärken zu besingen. Das Gesicht ist vollkommen regungslos hinter der dunklen Brille, die ein verzerrtes Abbild ihres Umfeldes widergibt. Genau so will Eik vor seiner Ex aufkreuzen.

Aufgeregt eilt er zum Cowboy auf vier Rädern, passiert seinen dreieckigen Rücken und stellt sich vor ihm auf. Er sieht das entstellte Bildnis seiner selbst auf der dunklen Brille. Die Worte zischen heraus, als wären sie nur eine einzige Vokabel.

»Okay, ich tu’s!«

Der Adler reagiert nicht. Eik sieht sich veranlasst, sich zu wiederholen.

»Ich werd’s tun, Hauke! Ich werd’s tun!«

Endlich regt sich Hauke: Er greift nach seinem Helm und setzt ihn auf. Freudig erregt nimmt Eik hinter ihm Platz.

Sie brausen los, quer durch die Menschenmenge.

 

 

DIE BLENDUNG

 

Diese Ecke der Stadt hat schon lange keine einsam schlendernde Großmutter mehr gesehen. Die verwahrloste Straße ist ein Anblick der Trostlosigkeit und Hort krummer Geschäfte. Eine Reihe von schweren Motorrädern parkt vor Svenssons Bar. Auch diese Kneipe bedarf gründlicher Sanierung. Laute Musik und röhrende Männerstimmen dringen dumpf nach außen.

Harro, nicht so alt wie man meinen würde und trunksüchtig, stürzt an die Theke.

»Gib mir’n Bier, Svensson!«

Der beleibte Wirt steht mit dem Rücken zu ihm. Er betrachtet sich im großen Spiegel an der Wand. In seiner Hand hält er ein Glas, das er mit einem Tuch abwischt in einem Tempo, der vermuten lässt, dass er einen Preis in Müßigkeit zu gewinnen versucht. Dann nehmen seine Augen Harro in den Fokus. Sie fahren hoch von seinem roten, gewellten Seitenhaar zu seinem glänzenden kahlen Schädel. Uneingeweihte würden ihn sicher für einen Zirkusclown halten, mutmaßt der Wirt. Svenssons ölige Haare werden auch schon immer lichter. Sein dichter, schwarzer Schnäuzer verbirgt, wie er den Mundwinkel verzieht. Er dreht sich um zu seinem leidigen Stammkunden.

»Verpiss dich, Harro. Ich sag dir das zum letzten Mal.«

»Was soll der Scheiß, Mann? Gib mir’n Bier, Alter!«

Der Wirt bleibt ruhig. Er hat schon einige Lenzen auf dem Buckel und weiß genau, wie er mit den unterschiedlichsten Typen von Menschen umzugehen hat.

»Du hast bei mir Trinkverbot, das weißt du genau.«

»Ich scheiß drauf, du Fettsack! Ich will jetzt mein Bier, verdammt noch mal!«

Svensson, noch immer beherrscht, hält inne und lässt den klebrigen Kunden nicht aus seinem strengen Blick. Harro, plötzlich peinlich berührt und sichtlich darum bemüht, die Wogen zu glätten und sich mit dem Mann zu versöhnen, der ihm den Lebenssaft beschert, verringert die Lautstärke seiner Stimme beträchtlich.

»Tut mir leid, Mann, was ich da gerade rausgespuckt hab. Aber ich hab ehrlich unheimlichen Durst und du hast das beste Bier in der ganzen Gegend und wir kennen uns doch schon so lange …«

Während Harro sich in Diplomatie übt, legt Svensson das Glas sachte beiseite. Dann platziert er gelassen eine Hand auf Harros Hinterkopf. Anschließend ballt er die andere Hand zu einer Faust zusammen. Die anfängliche Überraschung in Harros Gesicht weicht einer ernüchternden Erkenntnis, dass er Bier bestellt hat und etwas völlig anderes bekommt. Zweimal kracht die Faust in sein Gesicht. Beim dritten Nasenstüber der Svenssonschen Art lässt der Wirt ihn los und Harro fliegt rücklings gegen die Tische.

Die gut gefüllte Kneipe detoniert in Gelächter.

Harro kauert am Boden und hält die Hand vor die blutigen Lippen.

»Ich scheiß auf dich, du Scheißtyp! Habt ihr gehört, Leute? Ich scheiß auf Svensson!«

Unfreiwillig sorgt Harro damit für weiteren Brüller.

»Du hast recht, Harro, wir kennen uns schon lange. Und genau deswegen habe ich dir jetzt die Fresse poliert«, resümiert der Wirt.

Einer unter den vierzig Männern greift dem Gefallenen unter die Arme und hilft ihm hoch.

»Na komm, Harro, ich gebe dir einen aus.«

Zwei Männer betreten indessen die Kneipe. Augenblicklich verstummen die Stimmen. Alle Blicke bahnen sich ihren Weg durch die dichten Rauchschwaden und richten sich auf Hauke den Adler und den Fremden, den er anschleppt.

Hauke geht stumm an den stumm musternden Männern vorbei, dicht gefolgt vom nervösen Eik. Der Weg bis zum letzten Tisch erscheint Hauke an diesem Abend unwirklich lang. Insgeheim ist er dankbar, dass die Brille seine Emotionen für andere unsichtbar werden lässt.

Er nähert sich endlich dem Tisch, an dem nur einer sitzen darf. Ranx. Eine Braut unter jedem Arm. Das eine Auge ist trüb, das andere hell und klar. Eine Königskrone sitzt in Schieflage auf seinem kahlen Haupt.

»Was bringst du mir?«, fragt er angestrengt mit rauchender Stimme.

*

ZUM TITEL